Déjà vu an der Spritzkarspitze
2008:
„Des gähd scho. I brobier´s!“, sagt Andi (damals 20 Jahre). Er steht 20m über mir (damals 17 Jahre) an einem Höhlenüberhang in der 20.Seillänge, 600m über dem Einstieg, in der „Nordwestverschneidung“ an der Spritzkarspitze im Karwendel. Dann geht alles ganz schnell. Ein kurzer Schrei. Ein großer Stein kommt mir entgegen geflogen. Andi kommt mir entgegen geflogen. Ich ducke mich weg. Der Stein schlägt ein und zersplittert. Andi schlägt ein. Zug auf´s Seil. Es rumpelt noch ein bisserl. Stille.
Ich schaue wieder rauf zum Höhlenüberhang. Kein Andi mehr da. Das Seil ist umgelenkt am untersten Schlaghaken vor dem Standplatz. Den Rest der Haken hat es gezupft. Wo ist Andi? Der hängt kopfüber ein paar Meter unterhalb des Standplatzes. Er reagiert nicht. Keine Regung. Scheiße.
Ich fixiere ihn am Standplatz und schaue erstmal, dass ich die paar Meter zu ihm runter komme. Jetzt fängt er wild an zu zittern. Ich bekomme Angst. Nach einer Minute hört das Zittern wieder auf. Ich bin jetzt bei ihm und drehe ihn, so dass der Kopf wieder oben ist. Er atmet. Er reagiert zaghaft, bringt aber keinen verständlichen Laut raus. Sein Helm ist weg, der liegt im Tal. Sein Kopf blutet arg. Unsere Cams hat es ihm auch vom Gurt gerissen. Die finde ich am nächsten Tag am Einstieg…
Jetzt erstmal die Rettung rufen. Andi hat unser Handy im Rucksack. Den hat er noch am Rücken, zum Glück. Wir haben nur das eine Handy dabei. Ich suche es aus dem Rucksack und habe Empfang. Rettung kommt!
Anschließend funktioniere ich nur noch. Ich ziehe Andi rauf zum Standplatz, da hängt er besser. Ich baue alles ab. Seile abziehen, alles in den Rucksack. Wir hängen beide mit unseren Bandschlingen am Standplatz. Das ist ein Haken, zum Glück sogar gebohrt. Wir warten auf den Heli und ich bin froh, dass der eine Schlaghaken über uns gehalten hat. Ständig versuche ich Andi wach zu halten. Ihm geht´s nicht gut.
Der Heli kommt, sieht uns und dreht ab. Er landet drüben am Hohljoch. Nach kurzer Zeit startet er wieder und ein Retter hängt jetzt am Tau. Der Pilot fliegt extrem nah an die Wand. Über uns ist es leicht überhängend. Steine fliegen. Der Retter schafft es uns anzupendeln, ich greife seine Hand und ziehe ihn zu uns. Zuerst kommt Andi an den Rettungshaken, dann ich. Ich hänge uns beide aus dem Standplatz aus und wir pendeln weg von der Wand.
Zu dritt segeln wir über den Enger Grund rüber zum Hohljoch. Jetzt habe ich Tränen der Erleichterung in den Augen. Der größte Druck ist erstmal weg. Am Hohljoch wird Andi in den Hubschrauber verladen. Für ihn geht es in die Intensivstation nach Innsbruck. Ich muss am Hohljoch auf den Polizeihubschrauber warten. Zufällig wandert meine Tante am Hohljoch vorbei. Sie bleibt bei mir und fliegt mit mir und der Alpin-Polizei ins Tal in die Eng. Jetzt geht´s erstmal zum Doc. Eine kleine Platzwunde am Auge nähen. Wieder Zuhause erfahre ich, Andi hat innere Verletzungen, ein paar Knochenbrüche und eine Schädelverletzung, wird aber wohl wieder…
2021:
13 Jahre sind seit diesem für mich einschneidenden Erlebnis vergangen. Es dauerte circa ein halbes Jahr, bis ich zumindest wieder unbeschwert Sportklettern gehen konnte. Ein weiteres halbes Jahr dauerte es bis Alpinklettern wieder drin war. Dafür dann aber richtig!
Seitdem bin ich sehr viele Alpinrouten geklettert, mal entspannt, mal wild, mal richtig wild. Der Erfahrungsschatz ist damit enorm gestiegen, das Risiko- und Verantwortungsbewußtsein allerdings auch. Nicht nur gegenüber mir selbst, sondern mittlerweile vor allem gegenüber meiner Familie.
Eigentlich dachte ich das Thema "NW-Verschneidung" wäre für mich gegessen. Zu tief steckte das Erlebte noch im Kopf. Aber immer wenn ich am Weg Richtung Hohljoch, Teufelskopf, Gumpenspitze oder Gamsjoch bin, ist der Blick in die Linie frei und der Höhlenüberhang sichtbar. Erinnerungen werden aufgefrischt und diese Tatsache fühlte sich nicht wirklich gut an. Außerdem war mir schon eine Zeit lang klar, dass wir hier in einer Variante der Schlüssellänge unterwegs waren, dass wir nicht die einzigen waren, die sich hier verhauen hatten und dass die Originallinie wohl doch noch existiert. Auch wenn wir Blindfüchse damals keine Hakl sehen konnten…
Im neuen Karwendelführer steht auch, dass die Stände jetzt bis zur Schlüsselpassage saniert wurden. Diese Info, die offene Rechnung und das Wissen um jetzt stark veränderte Voraussetzungen, was Können, Erfahrung und Risikobereitschaft betrifft, ließen mich den Entschluß fassen die Tour nochmal anzugehen. Mit dem immer hochmotivierten und talentierten Jungspund Simon war auch schnell jemand gefunden, der gerne dabei war.
Um 4 Uhr war Abfahrt in Lenggries. Um 6:30 Uhr sind wir dann los geklettert. Das Wetter war top, die Route trocken. Beide waren wir motiviert und es lief gut dahin. Um 9 Uhr lagen schon die unteren 12/13 SL hinter uns. Hier ist der Fels noch gut und oft plattig, dadurch aber auch schlecht zusätzlich absicherbar. Die Route ist bis hier her nicht schwer, meist im IV. und V. Grad. Die paar wenigen Haken, die es gibt, sollte man finden, um nicht free solo unterwegs zu sein. Einige sind mit Schlingen markiert, das erleichtert die Wegfindung. Letztendlich kann man in dieser riesigen Plattenwüste überall klettern. Aber das aktuelle Topo passt gut und so war die Wegfindung kein Problem.
Je weiter man rauf klettert, desto brüchiger wird auch der Fels. Das ist typisch für´s Karwendel und speziell für die Wände von Eiskarlspitze, Spitzkarspitze, Plattenspitze, Grubenkarspitze und Laliderer. An den Seillängen rund um den Höhlenüberhang angekommen, baute sich wieder ein ungutes Gefühl im Magen auf. Dadurch kletterte ich sehr vorsichtig und etwas angespannt. Die Stelle des Unfalles von damals überkletterte ich einfach, indem ich den Zwischenstand ausließ und direkt in den Verschneidungsgrund der Schlüssellänge querte. Von dort aus hatte ich jetzt genügend Zeit auf den Ort des Unglückes zu schauen und mir meine Gedanken zu machen. Irgendwie ein Deja vu…
Ab jetzt ging es ins Neuland. Die Schlüssellänge ist mit 2 Bohrhaken saniert und war daher entspannt. Der IVer-Quergang danach, fordert dagegen nochmal den erfahrenen Alpinkletterer. Exponiert und traumhafter Fels…(nicht)…
Nach diesem langen Quergang (länger als im Topo) geht es in die letzten 4 Seillängen, die wieder gerade nach oben führen. Plötzlich tauchte hinter uns ein Rettungshubschrauber auf. Uns konnte dieser nicht betreffen. Heute morgen war aber eine Seilschaft neben uns in die Tour „Im Schatten der Sphinx“ eingestiegen. Diese ist eigentlich gut abgesichert und auf meist gutem Fels. Dennoch spielte sich jetzt nebenan wieder ein Drama ab, was mein Deja vu von vor 13 Jahren komplettierte und wir hofften, dass es besser ausgehen würde als damals.
Wir brachten auch die letzten Seillängen sicher hinter uns und waren nach 6,5 Stunden Kletterzeit, zum ersten Mal an diesem Tag, in der Sonne am Grat. Shake Hands mit Simon! Nach dieser längeren Tour waren wir natürlich beide glücklich, dass es problemlos und wie geplant gelaufen war und dass wir flott durchgekommen waren. Für mich war es aber auch ein wirklich besonderer Moment dieses Kapitel endlich abgeschlossen zu haben und auch etwas Positives mit dieser Route verbinden zu können.
Im Abstieg trafen wir dann am Gipfel der Spritzkarspitze auf einen Spezl der beiden Kletterer von nebenan. Dieser hatte schon telefonischen Kontakt mit ihnen und sagte uns, dass der Unfall mit einem gebrochenen Fuß nach Sturz und Felsausbruch doch einigermaßen glimpflich ausgegangen war. Die Rettung durch die tiroler Bergrettungskollegen schien auch ohne weitere Vorfälle geklappt zu haben. Wir kraxelten im Anschluss noch gemeinsam über die Eiskarlspitze in die Hochglückscharte, wo er sich in Richtung Hochglück-Gipfel verabschiedete und wir den direkten Weg zum verdienten Bier in der Eng wählten. Es ist 16 Uhr, das Zillertaler Märzen macht plopp. Das letzte Deja vu des Tages!
Facts zur Spritzkarspitze "NW-Verschneidung", VI+:
- Erstbegeher: Baumann/Rosenhagen, 1979
- Wandhöhe circa 800m
- 25 Seillängen
- Seit 2020 alle Stände mit 2 Bohrhaken versehen
- Landschaftlich überragend mit langer Konzentrationsphase auch im Abstieg
- Einige gebohrte Zwischenhaken an den entscheidenden Stellen. Keineswegs übersichert oder Plaisir-Charakter. Es ist auch oft schwierig weitere mobile Zwischensicherungen anzubringen. Einen weiteren Schlaghaken habe ich in der IVer Querung nach der Schlüssellänge geschlagen und belassen. Wiederholern würde ich Totem Cams 0.2-0.75 sowie Hammer und Haken empfehlen und 2x 60m Halbseile. Auch wenn sich die reinen klettertechnischen Schwierigkeiten in Grenzen halten, sollte man die Route nicht unterschätzen und mit einer Laliderer Wand-Light Version rechnen.