Marmolada: "Weg durch den Fisch", IX-

Der „Weg durch den Fisch“ IX- ist, obwohl schon in den frühen 1980er-Jahren erstbegangen, eine der berühmtesten und berüchtigtsten alpinen Kletterrouten der Alpen. Jahrelang hat sich die damalige Kletterelite an der sogenannten „Silberwand“ die Zähne ausgebissen, bis 1981 die beiden Tschechen Igor Koller und Indrich Sustr erfolgreich waren. Sie kletterten damals in teilweise technischer Kletterei durch die über 900 Meter hohe Wand. Erst 3 Jahre später gelang Heinz Mariacher und Luisa Iovane die erste Wiederholung. Die erste Rotpunktbegehung musste weitere 3 Jahre warten. Hier waren dann wieder Mariacher und Bruno Pederiva erfolgreich. Im Jahr 2007 gelang dann Hansjörg Auer ein Geniestreich. Er kletterte die Route Free-Solo. Auch heute zählt der „Fisch“ noch zu den anspruchsvollsten Routen in den Alpen. Die Kombination aus Kletterlänge, schlechter Absicherung, hohen Schwierigkeiten und etwas brüchigem Fels im unteren und oberen Wandteil ließen die Tour zu einem Meilenstein der Klettergeschichte werden.

Auch bei uns stand diese Route ganz oben auf der Tourenliste. Im August 2016 war es dann soweit. Eine stabile Hochdrucklage ohne Gewitterneigung war für mehrere Tage angesagt. Diese Chance konnten wir uns nicht entgehen lassen und so ging es für David und mich in die Dolomiten. 

Am ersten Tag wollten wir nur den Zustieg zur Falier Hütte bewältigen. Weil der Zustieg zur Hütte überschaubar ist und die Sommertage recht lang, kletterten wir noch eine Route in der Sella, um dann am Nachmittag zur Hütte aufzusteigen. Die Taktik war, nur einen Rucksack durch die Wand zu schleppen und auf dem Band auf 2/3 Wandhöhe, nach den größten Schwierigkeiten, zu biwakieren. Außerdem war klar, dass wir in Wechselführung und im Onsight-Modus unterwegs sein wollten. Ich hatte dann das Pech den Rucksack auf dem Buckl zu haben, was den Zustieg dann doch anstrengender gestaltete als vermutet. Als Entschädigung bot mir David einen „Joker“ an.  „Joker“ hieß in diesem Zusammenhang: 1 Seillänge Vorstieg verweigern. 1x nicht vorsteigen auf 37 Seillängen ist nicht die Welt, aber ich fand unsere Abmachung einen feinen Deal. 


An der Hütte angekommen gab es erstmal ein Erfrischungsgetränk auf der Terrasse. Irgendwann kamen 2 Italiener zu uns, die gerade im „Fisch“ waren und in der 12. Seillänge abgeseilt hatten. Sie meinten, dass es viel zu heiß sei, die Route zu klettern und dass ihre Zehen in den engen Kletterschuhen Blasen geworfen hätten. Wir dachten uns nur: „Tolle Aussichten für morgen…“. Die Aufregung vor der Tour stieg nochmal etwas an.
 
Am nächsten Tag ging es früh los. Im Schein der Stirnlampen stolperten wir in Richtung Wandfuß. Dort angekommen war es natürlich noch stockdunkel. Darum hieß es erstmal warten bis zur Dämmerung. Beim ersten Licht konnten wir dann einsteigen. Das Abenteuer konnte endlich beginnen!
 
Die erste Seillänge startet gleich mal mit einem kurzen Boulder im brüchigen Überhang. Herrlich. Danach folgt nicht immer ganz übersichtliches Gelände, was uns einen Verhauer, 1 Stunde Tageslicht und etwas Nerven kostete. "Egal, machen wir halt jetzt schneller!", war die Devise. 


Nach 4 Stunden Kletterei stehen wir vor der ersten VIII+ in der 12.Seillänge. Ein kleingriffiger Quergang und eine anstrengende Verschneidung sind geboten. Zwei Längen danach kommt der große Prüfstein der Tour. Je nach Topo, ist sie mit VIII+/IX- oder IX- angegeben. Eine seichte Verschneidung mit ein paar Löchern und Leisten. Schlechte Absicherung und ein weiter Runout mitten in der schwersten Passage warten auf uns. David haut sich rein und kann die Länge auf anhieb klettern! Geil, der Weg in die große namensgebende Nische („Fisch“) ist frei! Ich steige die nächste VIII- vor und bald sitzen wir im „Fisch“ und machen erst mal Pause. Die brauchen wir auch, denn die letzten 5 Seillängen auf das rettende Band, unser Biwakplatz, sind nochmal anhaltend schwer und verlangen höchste Konzentration.


David ist wieder dran. Er klettert rechts aus der Nische raus und quert anschließend, an relativ guten Griffen, über der Nische nach links, bevor es wieder senkrecht nach oben geht. Fantastische senkrechte Kletterei an Fingerlöchern und Taschen. Stand! Die nächste VIII+ ist geschafft. Ich komme nach und grinse David am Standplatz an. „Joker!“, sage ich. Deal ist Deal. Die nächste Runde habe ich Vorstiegspause. Gut getimed, denn jetzt, in der 17.Seillänge, wartet nochmal eine IX- auf uns. David klettert souverän nach oben. 5 Meter vor dem Stand wird’s aber brenzlig. Ein Schlaghaken wird geklippt und dann führt geschlossener und plattiger Fels mit einer Rechtsquerung zum Standplatz. Winzige Griffe und noch beschissenere Tritte stehen zur Auswahl. David wagt es…und schießt die erste Breze des Tages. Der Plan vom Onsight ist rum ums Eck. Zwei weitere Stürze in den Schlaghaken folgen. Bittere Sache, die Zeit verrinnt und der Tag ist nicht mehr besonders lang. Die Sonne beginnt schon gefährlich tief zu sinken. Jetzt werfen wir auch den Rotpunkt-Gedanken über Bord, denn wir wollen unbedingt noch rauf auf das Band. Ansonsten müssten wir wieder runter in den „Fisch“ abseilen und dort eine ungemütliche Nacht verbringen. David bewegt sich jetzt also, sehr wacklig, mit zwei Cliffs in die Platte. Ein paar Mal in die Schlingen an den Cliffs gestiegen, ganz vorsichtig belastend und den vierten Abgang vor Augen, schwindelt er sich zum Standplatz! Uiuiuiuiui! 


Jetzt ist der Weg auf das Band frei! Es folgt noch ein sehr plattiger VIII-er mit absteigendem Quergang, bevor man über eine Verschneidung den Standplatz erreicht. Leider ein Hängestand. Die Haken kommen uns auch nicht besonders gut vor. Wir wurschteln noch ein paar Keile und Cams in die Ritzen und weiter geht es. Wir haben keine Zeit zu verlieren und queren an einer ausgesetzten Untergriff-Schuppe nach rechts. In dieser Zeit wird es dunkler und dunkler. Nur noch eine VIII- Seillänge auf das Band und wir hätten es geschafft. Was folgt ist die entspannteste Länge der ganzen Route. Denn der Riss hat viele Normalhaken. So viele haben wir den ganzen Tag noch nicht gefunden! Im Stockfinstern erreichen wir das Band mit dem bequemen Biwakplatz unter einem Dach. Erleichtert und K.O. geben wir uns nach 14 Stunden Kletterei die Hand. Ein kurzer Snack, jeder ein paar Schluck voll Wasser, von dem wir natürlich wieder viel zu wenig dabei haben und wir legen uns in den Biwaksack. 


Am nächsten Tag machen wir erstmal etwas Frühsport auf dem Band. Die Nacht hat uns ziemlich ausgekühlt. Hampelmänner, Laufen auf der Stelle und Liegestützen helfen da. David ist mental noch etwas lädiert vom Vortag. Wir einigen uns darauf, dass ich die letzten 17 Seillängen vorsteige und er den Rucksack durch die Kamine schleift. Das Gelände ist nicht mehr so schwer. Ein kurzer Kaltstart im unteren siebten Grad und bald stehen wir in der beeindruckenden Kaminreihe die bis zum Gipfel führt. Seillänge für Seillänge geht es, den Umständen entsprechend, flott nach oben. Nach 5 Stunden Kletterei stehen wir um 11 Uhr glücklich und geschlaucht am Gipfelgrat. Knuddeln unter Männern. 

Ein Schritt um´s Eck und wir kommen uns vor wie Außerirdische. Die Marmolada-Gondelbahn, mit schaulustigen Touristen, ist nur einen Steinwurf entfernt. Wir kraxeln, beobachtet von Menschenmassen, über das Geländer der Aussichtsplattform. Die Zivilisation hat uns wieder! 


Den Abstieg gestalten wir bequem mit der Seilbahn. Wir gönnen uns eine kurze Rast im Supermarkt an der Mittelstation, um unsere Dehydrierung zu verringern und schweben anschließend mit ein paar Euro weniger im Hosenbeutel ins Tal. Noch nie bin ich so gern mit der Seilbahn gefahren und selten hat das Bier nach einer Tour besser geschmeckt!